Collage_Archiv.jpg

Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

2016 feiert das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien sein 200-jähriges Jubiläum. Offiziell wurde das Archiv im Jahr 1816 gegründet, als die Vertreter der jüdischen Gemeinde am 30. Juni 1816 den Beschluss fassten, alle Aktenstücke der „hiesigen Israeliten“ durch einen Aktuar (Schreiber/Sekretär) zusammenzulegen und aufzubewahren. Es dauerte mehr als dreißig Jahre bis sich das Archiv „institutionalisierte“. Alte sowie neue hinzukommende Aktenstücke der einzelnen Abteilungen wurden sukzessive geordnet. Bis in die 1920er Jahre wurden die Akten nach Sachbegriffen, Orts- und Personennamen katalogisiert. Das Archiv entwickelte sich zu einem Ort der Begegnung mit wissenschaftlichem Anspruch.
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 wurde die IKG Wien gezwungen, den Archivbetrieb einzustellen. Die IKG und ihr Archiv kamen unter die vollständige Kontrolle der Zentralstelle für jüdische Auswanderung und der Gestapo. 1938/1939 beschlagnahmte die Gestapo umfangreiche Archivbestände sowie Manuskripte und brachte sie nach Berlin, von wo sie auf Grund der Bombenangriffe im Sommer 1943 nach Schlesien übersiedelt wurden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entdeckte sie die Rote Armee und nahm sie als sogenannte Beuteakten nach Moskau mit (-> Osobyi Archiv). 

Das Jüdische Gemeindearchiv war mit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr existent. Die Archivbestände waren in einem erbärmlichen Zustand und lagerten in feuchten Kellerräumen. Die gesamte Struktur und Ordnung war komplett zerstört. Eine Neuordnung des Archivs bzw. dessen Neuaufbau war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Aus diesem Grund stimmte 1951 das Präsidium der IKG Wien nach eineinhalb jähriger Bedenkzeit zu, Teile des Archivs nach Jerusalem zu bringen und sie den Central Archives (früher General Archives) unentgeltlich als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Die erste Übersendung von Archivgut erfolgte 1952, weitere Tranchen in den Jahren 1966, 1971 und 1978. Darunter befinden sich Protokolle, Schriftstücke und Akten für die Bereiche Verwaltung, Finanzen, Bauwesen, Matrikelführung, Friedhof, Unterricht, Kultusangelegenheiten, Stiftungen, Fürsorge, Vereine, Auswanderung etc. (siehe http://cahjp.huji.ac.il/).

Bis Ende der 1990er Jahre gab es keine Überlegungen, ein Archiv zu gründen bzw. über den Verbleib des restlichen Archivmaterials (jenes Teils, der nicht leihweise an die Central Archives übergeben wurde) nachzuforschen. Erst auf Initiative des damaligen Präsidenten der IKG Wien, Dr. Ariel Muzicant, und der Exekutivdirektorin des Präsidiums, Erika Jakubovits, wurde ab 1998 gezielt gesucht. Im Jahr 2000 wurden umfassende Bestände in einem alten Gebäude der IKG Wien in der Herklotzgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk wiedergefunden. Es handelte sich dabei um jenes „verschollene“ Archivmaterial, das bereits 1986 bei Renovierungsarbeiten im Keller unterhalb der Synagoge in der Seitenstettengasse durch Ernst Meir Stern entdeckt worden war, allerdings nach der Bergung wieder in Vergessenheit geriet.
Das wieder entdeckte Archivmaterial wurde unmittelbar nach der Auffindung im Jahr 2000 in die Räumlichkeiten der damaligen „Anlaufstelle für Jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich und deren Nachkommen“ transportiert und provisorisch eingelagert. In den mehr als 800 Kartons befanden sich u.a. 500.000 Dokumente aus der NS-Zeit – wichtiges Archivmaterial für die Erforschung der Shoah mit personenbezogenen Karteien, Registerbüchern, Berichten und Korrespondenzen. Diese waren mit Unterlagen aus der Zeit vor 1938 sowie nach 1945 vermischt. Ein Teil des auf den Holocaust bezogenen Archivmaterials wurde in den Jahren von 2001 bis 2008 für verschiedene interne und externe Projekte gesichtet, geordnet und in provisorischen Listen und Datenbanken erfasst. Mehr als drei Viertel der Dokumente konnten mit finanzieller Unterstützung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) mikroverfilmt werden.
Im Zuge dieser Tätigkeiten wurde die Existenz und damit einhergehend die Einzigartigkeit des Archivs von Jahr zu Jahr bewusster wahrgenommen. Mehr als 70 Jahre nach der Auflösung durch die Nationalsozialisten wurde Anfang 2009 das Archiv als eigene Abteilung wieder begründet und damit dessen Bedeutung für die Kultusgemeinde unterstrichen.

01_Archiv_Beschluss_Gründung_Archiv_AW_69_1_.jpg
02_Archiv_Provisorische_Ordnung_Husserl_AW_1705.jpg
03_Archiv_Neuorganisation_Archiv_AW_1705.jpg
04_Archiv_Inhalt_Abteilung_AW 1707_2_S_05.jpg
05_Archiv_Gästebuch_Z_P_Chajes_AW_1716.jpg

Geschichte bis 1938

Am 30. Juni 1816 fassten die Vertreter der Jüdischen Gemeinde in Wien den Beschluss, alle Aktenstücke (Patente, kaiserliche Erlässe und Verordnungen, welche die Rechte und Pflichten der ortsansässigen Juden regelten) der „hiesigen Israeliten“ durch einen Aktuar (Schreiber/Sekretär) zusammenzulegen und aufzubewahren. Grund dafür waren immer wiederkehrende Unstimmigkeiten betreffend die Gültigkeit von behördlichen und kaiserlichen Erlässen sowie früher gewährten Privilegien, welche die Rechte und Pflichten der ortsansässigen Jüdinnen und Juden regelten. Der Beschluss aus dem Jahr 1816 gilt als die „Geburtsstunde“ des Archivs. Die konkrete Realisierung und der Aufbau eines Archivs erfolgten in den Jahrzehnten danach. 
Anfang der 1840er Jahre verlieh der damalige Aktuar Ludwig August Frankl von Hochwart der Registratur „Archivcharakter“ und sorgte für die Unterbringung der Archivalien in einem Raum im zweiten Wiener Gemeindebezirk, Czerningasse 4. Zu diesem Zeitpunkt gab es 22 Aktenstücke aus der Zeit von 1626 bis 1805 und rund 10.000 Aktenstücke aus der Zeit ab 1806.

Unter der Leitung von Dr. Siegmund Husserl schaffte das Archiv im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Sprung zu einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen geführten Institution. Husserl legte ein Konzept einer umfassenden Archivverwaltung mit einer parallel laufenden Registratur vor. Seine Vorschläge stießen jedoch bei den Vorstandsmitgliedern nicht immer auf Wohlwollen und wichtige Entscheidungen wurden verschoben. Seinen Plan zur Gründung eines „Zentralarchivs der österreichisch-jüdischen Kultusgemeinden“ konnte er nicht verwirklichen.
Die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründete Historische Kommission der IKG Wien unterstützte die Sammeltätigkeit des Archivs. Das Hauptaugenmerk dieser Kommission lag in erster Linie in der Erforschung und Aufarbeitung der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Österreich. Zu diesem Zweck wurden sämtliche in österreichischen Archiven verfügbaren historischen Quellen zu diesem Thema identifiziert und gesammelt.

Husserls Nachfolger Dr. Heinrich Pinkas strebte eine Archivordnung und Reorganisation sowie die Einführung der „Kanzleiregistratur“ an. Seine Bemühungen wurden jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Das Archiv befand sich nach Kriegsende 1918 zufolge der Schilderungen des Historikers Dr. Alfred F. Přibram in einem chaotischen Zustand und die räumliche Situation war mangelhaft. Anfang der 1920er Jahre wurde ein Fachkomitee im Rahmen der Historischen Kommission zum Zwecke der Reorganisation des Archivs einbezogen. Nach mehreren Jahren der Diskussion, diversen Inspektionen sowie vielfältigen Lösungsansätzen wurde im April 1925 der Bibliotheksbeamte Saul Chajes als neuer Archivar eingesetzt. Unter seiner Leitung waren erste Erfolge bei der Umstrukturierung erkennbar. Es erfolgte eine chronologische Ordnung der Akten und Schriftstücke bis 1860, eine Ordnung nach Jahrgängen und Exhibitenzahlen für Akten bis 1926 und parallel dazu die Katalogisierung nach Schlagworten, Orts- und Personennamen. Das Archiv selbst wurde in Räumen des IKG-Gebäudes in der Seitenstettengasse 2 im ersten Wiener Gemeindebezirk untergebracht.
Durch das Anwachsen der Archivbestände wurde die Raumnot immer größer. Aus diesem Grund beschloss der Kultusvorstand, das Archiv im Juni 1934 in neue Räumlichkeiten im zweiten Wiener Gemeindebezirk in der Ferdinandstraße 23 zu übersiedeln. In dessen unmittelbarer Umgebung befand sich auf der einen Seite des Gebäudekomplexes der Leopoldstädter Tempel (die zweite in Wien erbaute Synagoge), die Gemeindebibliothek, das Jüdische Museum und im gegenüberliegenden Gebäude war die 1893 eröffnete Israelitisch-Theologische Lehranstalt untergebracht. Zu dieser Zeit war das Archiv Begegnungsort nationaler und internationaler WissenschaftlerInnen.

01_Archiv_Zentral-Archiv_öst_jüd_Kultusgemeinen_AW_1706.jpg
10_Archiv_Kriegswirren_AW 1707_3_S_21.jpg
11_Archiv_Kriegswirren_AW 1707_3_S_22.jpg
06_Archiv_Auszug_Vorschläge_Reorganisation_AW_1707_4_S_26.jpg
07_Archiv_Erklärung_Pinkas_AW_1707_4_S_01.jpg
08_Archiv_Erklärung_Pinkas_AW_1707_4_S_02.jpg
09_Archiv_Erklärung_Pinkas_AW_1707_4_S_03.jpg
15_Archiv_Rauch-Kochverbot_AW_1707_4_S_13.jpg
16_Archiv_Reorganisation_AW_1707_4_S_21.jpg
04_Archiv_Adaptierungsarbeiten_AW_1707_5_S_04.jpg
13_Archiv_Pinkas_Archivangelegenheiten_AW_1707_5_S_01.jpg
14_Archiv_Pinkas_Archivangelegenheiten_AW_1707_5_S_02.jpg
02_Archiv_Abschrift_Bericht_Saul_Chajes_AW_1707.5_S_14.jpg
03_Archiv_Abschrift_Bericht_Saul_Chajes_AW_1707.5_S_15.jpg
12_Archiv_Mitteilung_Rauchverbot_AW_1708_1.jpg
05_Archiv_Auszug_Protokolle_Hist_komm_AW_1707_5_S_11.jpg
17_Archiv_Tätigkeitsbericht_Archiv_1936_AW_1708_3.jpg

Geschichte von 1938 bis 1945

Die Kontinuität der Tätigkeiten im Archiv wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 jäh unterbrochen. Die IKG und ihr Archiv kamen unter die vollständige Kontrolle der Zentralstelle für jüdische Auswanderung und der Gestapo. Zu diesem Zeitpunkt war Dr. Leopold Moses, der damalige Archivleiter, damit beschäftigt, einen Archivindex zu erstellen. Bei dieser Tätigkeit wurde Moses abrupt unterbrochen. Adolf Eichmann untersagte ab Juli 1938 den Archivbetrieb. Lediglich Leopold Moses hatte Zutritt, um die Matriken- und Registerbücher sowie personenbezogene Akten und Karteien zum Zweck der Beantwortung von „genealogischen“ Anfragen der Zentralstelle oder der Gestapo durchzusehen. Die Nationalsozialisten bedienten sich dieser Materialien, um die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu organisieren.

 

1938/1939 kam es zu weiteren massiven Eingriffen als die Gestapo einen Großteil der Archivbestände, Hebraica und Handschriften der Jüdischen Gemeinde sowie zahlreicher jüdischer Vereine und Institutionen beschlagnahmte. Die konfiszierten Akten und Archivalien wurden nach Berlin in das Reichssicherheitshauptamt gebracht, um sie dort rassenideologischen Forschungszwecken zuzuführen. Als im Sommer 1943 die Bombenangriffe intensiver wurden, übersiedelten die NS-Behörden die Archivbestände nach Schlesien, wo sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Roten Armee entdeckt und als sogenannte Beuteakten nach Moskau ins Osobyi Archiv transportiert wurden.

Die von den Nationalsozialisten ab Mai 1938 erzwungene Umstrukturierung des Verwaltungsablaufes der IKG Wien brachte eine Flut von Akten und Schriftstücken, Karteien und Berichten mit sich, die im Archiv nicht mehr methodisch abgelegt oder eingeordnet werden konnten. Dr. Leopold Moses wurde am 14. Oktober 1943 verhaftet und am 1. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Das Jüdische Gemeindearchiv mit wissenschaftlichem Anspruch, das auf Basis fundierter Ordnungs- und Erschließungstätigkeiten im Laufe der Jahrzehnte sukzessive an Bedeutung gewonnen hatte, war mit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr existent. Es dauerte mehr als 60 Jahre, bis ein Neubeginn und somit ein Wiederaufbau des Archivs in Wien beschlossen wurde.

01_Nachlass Leopold Moses_vor_1943.JPG

Geschichte nach 1945

Nach 1945 wurde das Archiv der Kultusgemeinde Wien nicht wieder eingerichtet. Die neu konstituierte IKG Wien hatte große Bedenken, ob sich jemals wieder eine blühende jüdische Gemeinde wie vor dem „Anschluss“ etablieren könne. Über 120.000 österreichische Jüdinnen und Juden hatten die Flucht vor dem NS-Regime ergriffen, 48.000 wurden allein aus Österreich in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Insgesamt wurden 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet. Nach 1945 stand die Kultusgemeinde vor enormen Herausforderungen und ihre vorrangigen Interessen galten der Frage, wie nach Wien zurückkehrenden Jüdinnen und Juden, KZ-Überlebenden oder Angehörigen der im Holocaust Ermordeten geholfen werden konnte. Eine Neuordnung des Archivs bzw. dessen Neuaufbau war daher von geringerer Priorität. Darüber hinaus waren die Bestände nach 1945 in einem erbärmlichen Zustand und lagerten in feuchten Kellerräumen. Die gesamte Struktur und Ordnung, so wie sie vor 1938 bestanden hatte, war komplett zerstört.

Laut Bericht aus dem Jahr 1979 von Dr. Avshalom Hodik, ehemaliger Bibliothekar sowie ab 1982 Amtsdirektor der IKG Wien, machte Dr. Alex Bein, Direktor des Zionistischen Archivs in Jerusalem, bereits im Dezember 1949 den Vorschlag, die Wiener Archivbestände nach Jerusalem zu transferieren, damit sie wissenschaftlich bearbeitet werden. Die Haltung der IKG Wien gegenüber dem Transfer nach Jerusalem war anfangs eher ablehnend. Eineinhalb Jahre später, angesichts der prekären Situation der Kultusgemeinde in der Nachkriegszeit sowie im Bewusstsein, dass die Dokumente in Wien nicht sachgerecht aufbewahrt werden können, stimmte das Präsidium der IKG Wien 1951 zu, einen umfangreichen Teil der Archivalien der Institution „The Jewish Historical General Archives“ (heute: „The Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem“) unentgeltlich als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Die erste Übersendung von Archivgut nach Jerusalem erfolgte 1952, weitere Tranchen in den Jahren 1966, 1971 und 1978.

Die Zerstörung des historisch gewachsenen Archivs durch die Nationalsozialisten, die mehrmalige Dislozierung der Akten und Manuskripte nach Berlin, über Schlesien und später Moskau sowie die Leihgabe der Archivalien nach Jerusalem haben bis heute weitreichende Folgen in Hinblick auf den vor rund fünfzehn Jahren beschlossenen Wiederaufbau eines Jüdischen Gemeindearchivs in Wien. Die Ausgangslage für eine Wiederbegründung war bis Ende der 1990er Jahre denkbar ungünstig. Bis zu diesem Zeitpunkt – insgesamt über 50 Jahre lang – gab es keine Überlegungen, ein Archiv zu gründen bzw. über den Verbleib des restlichen Archivmaterials (jenes Teils, der nicht leihweise an die Central Archives übergeben wurde) nachzuforschen. Erst auf Initiative des damaligen Präsidenten der IKG Wien, Dr. Ariel Muzicant, und der Exekutivdirektorin des Präsidiums, Erika Jakubovits, wurde ab 1998 gezielt gesucht. Im Jahr 2000 wurden umfassende Bestände in einem alten Gebäude der IKG Wien in der Herklotzgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk wiedergefunden. Es handelte sich dabei um jenes „verschollene“ Archivmaterial, das bereits 1986 bei Renovierungsarbeiten im Keller unterhalb der Synagoge in der Seitenstettengasse durch Ernst Meir Stern entdeckt worden war, allerdings nach der Bergung wieder in Vergessenheit geriet.
Das aus mehr als 800 Kartons und hunderten Büchern bestehende Archivmaterial wurde unmittelbar nach der Auffindung im Jahr 2000 in die Räumlichkeiten der damaligen „Anlaufstelle für Jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich und deren Nachkommen“ transportiert und provisorisch eingelagert. Es umfasste u.a. 500.000 Dokumente aus der NS-Zeit, personenbezogene Karteien, Registerbücher, Berichte und Korrespondenz. Diese waren mit Unterlagen aus der Zeit vor 1938 sowie nach 1945 vermischt. Ein Teil des auf den Holocaust bezogenen Archivmaterials wurde in den Jahren von 2001 bis 2008 für verschiedene interne und externe Projekte gesichtet, geordnet und in provisorischen Listen und Datenbanken erfasst. Mehr als drei Viertel der Dokumente konnten mit finanzieller Unterstützung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) mikroverfilmt werden.
Im Zuge dieser Tätigkeiten wurde die Existenz und damit einhergehend die Einzigartigkeit des Archivs von Jahr zu Jahr bewusster wahrgenommen. Mehr als 70 Jahre nach der Auflösung durch die Nationalsozialisten wurde Anfang 2009 das Archiv als eigene Abteilung der IKG Wien wieder begründet und damit dessen Bedeutung für die Kultusgemeinde unterstrichen.

01_Mappe_Bibliothek 1949_ex Singer_April_1952_klein.jpg
04_A-VIE-IKG-III-KKB-3-2_02_1955_klein.jpg
05_A-VIE-IKG-III-KKB-3-2_03_1955_klein.jpg
03_A-VIE-IKG-III-KKB-3-2_01__1955-10-10klein.jpg
06_A-VIE-IKG-III-AD-KOR DAT-21-2_1966-08-18_klein.jpg
07_A-VIE-IKG-III-AD-KORR EX-45-3_01_1966-11-06_klein.jpg
08_A-VIE-IKG-III-AD-KORR EX-45-3_02_1966-11-06_klein.jpg
02_Verzeichnis_Archiv_Wien_in_CAHJP_Mappe_The Jewish Historical General Archives Jerusalem_klein.jpg
  1. So verwenden sie die Zeitleiste

    Die Punkte auf der Zeitleiste stellen historisch wichtige Ereignisse des Archivs der Kultusgemeinde Wien dar und geben Ihnen einen Überblick über die zeitliche Einordnung des unten dargestellten Exponats. Durch den Klick auf einen der Punkte erhalten Sie mehr Informationen.

  2. 2. Jänner 1782

    Toleranzpatent Josephs II. .

    Das Toleranzpatent für die Juden in Wien und in Niederösterreich ermöglichte einzelnen jüdischen Familien unter Abgabe eines Zinses, sich in Wien anzusiedeln, bestimmten Gewerben nachzugehen und ihren Glauben im Privaten auszuüben sowie ihren Kindern Religionsunterricht erteilen zu lassen.

  3. Begründung der Gemeindebibliothek.

    Der Buchdrucker Anton Schmid, der eine Lizenz zum Drucken hebräischer Werke hatte, welche durch die Zensur streng begutachtet wurden, überließ den Wiener Juden aus Dankbarkeit für zahlreiche Aufträge 133 Drucke. Diese bildeten den Grundstock der bis heute bestehenden Gemeindebibliothek.

    1814 bis 1815

    Wiener Kongress.

    Durch den Einfluss des Code Civil kamen die Juden in Europa der Gleichstellung näher. Bei der Reorganisation waren die Juden im Habsburgerreich dem Kaiser gegenüber loyal, sie hofften auf weitere Fortschritte. Jedoch wurden mit dem Scheitern der Demokratisierung die Zugeständnisse eingeschränkt.

  4. 30. Juni 1816

    Gründung des Wiener Jüdischen Archivs .

    Aufgrund wiederholter Unstimmigkeiten betreffend die Gültigkeit von Erlässen, welche die Rechte und Pflichten der ortsansässigen Juden regelten, beschlossen am 30. Juni 1816 die Vertreter der Wiener Judenschaft, ihre Aktenstücke durch einen Aktuar zu sammeln und aufzubewahren.

  5. 12. Dezember 1825

    Grundsteinlegung des Wiener Stadttempels.

    Die Grundsteinlegung des Wiener Stadttempels am 12. Dezember 1825 erfolgte durch Rabbiner Isak Noa Mannheimer. Die Synagoge wurde nach den Plänen von Josef Kornhäusel errichtet und den damaligen Bauvorschriften folgend, von außen nicht sichtbar in ein Wohnhaus integriert.

    Einführung des Wiener Ritus .

    Mannheimer und Sulzer waren mit Krisen zwischen Orthodoxie und Reformern konfrontiert. Die Spaltung der Gemeinde konnte durch eine Gottesdienstordnung, die hebräische Gebete, deutsche Predigten sowie den Verzicht auf die beliebte Orgel, aber die Einführung eines Chors vorsah, verhindert werden.

  6. 9. April 1826

    Einweihung des Wiener Stadttempels.

    Mit der Errichtung des Stadttempels in der Seitenstettengasse im ersten Wiener Bezirk gelang es den Wiener Juden erstmals seit der Vertreibung 1670, wieder ein geistiges und religiöses Zentrum zu errichten. Als erster Rabbiner wirkte hier Isak Noa Mannheimer, als erster Kantor Salomon Sulzer.

  7. 31. Oktober 1827

    Erste Registratur-Verordnung.

    Unter dem Aktuar Josef Veith wurde eine Ausführungsverordnung für die Archiv-Registratur beschlossen, die beinhaltete, dass zu jeder Archivalie ein Regest erstellt werden solle. Außerdem wurde er angewiesen, für das bisher gesammelte Archivgut einen Schrank zu erwerben.

  8. Ludwig August Frankl wird Aktuar.

    Ab den 1840er Jahren verlieh Ludwig August Frankl von Hochwart der Registratur „Archivcharakter“ und verbrachte die Archivalien nach 1020 Wien, Czerningasse 4. Die Akten wurden nach Herkunft geordnet und katalogisiert. Dies betraf 22 Stücke von 1626 bis 1805 und rund 10.000 aus der Zeit ab 1806.

  9. Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien .

    In Folge der bürgerlichen Revolution 1848 kam es 1849 zu einer Begegnung mit dem Kaiser, in der die Gemeindegründung beschlossen wurde. 1852 wurden ihre provisorischen Statuten genehmigt. Damit gewann die Institution ihre Autonomie zur Regelung ihrer politischen Angelegenheiten und in Kultusfragen.

  10. 1857 bis 1910

    Hungersnöte in Galizien.

    Aufgrund schwerer Hungersnöte wanderten große Teile der Bevölkerung Galiziens aus. Viele galizische Juden zogen nach Wien. Wegen verschiedener ritueller Traditionen führte dies einerseits zu Spannungen in der Gemeinde, andererseits zu einer verstärkten internen kulturellen Auseinandersetzung.

  11. 21. Dezember 1867

    Staatsgrundgesetz (RGBl. 142/1867) .

    Das „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ verlieh den Juden erstmals das Recht, ihren Aufenthaltsort im Habsburgerreich frei zu wählen, die ungehinderte Religionsausübung und sorgte für gesetzliche Gleichstellung.

  12. 10. Juli 1868

    Eigenständige Matrikenführung der IKG Wien.

    Per Gesetz betreffend die Beweiskraft der Geburts-, Trauungs- und Sterbematriken der Israeliten (RGBl. Nr. 12/1869) wurde die eigenständige Matrikenführung staatlich anerkannt. Ab diesem Zeitpunkt führten staatlich beeidete Matrikenführer die Personenstandsbücher. Diese werden bis heute fortgeführt.

  13. Kultusstreit zwischen Orthodoxen und Liberalen in der IKG Wien.

    Nach Annahme einer Reform des Kultus durch liberal fortschrittliche Kräfte unter der Führung Ignaz Kurandas kam es zum Kultusstreit. Die Orthodoxen unter der Führung Rabbiners Salomon Spitzer wollten aus der Gemeinde ausscheiden. Durch Kompromisse konnte die Spaltung der Gemeinde verhindert werden.

  14. 1881 bis 1906

    Pogrome in Russland.

    In Russland fanden verheerende Pogrome an der jüdischen Bevölkerung statt. Die IKG Wien beteiligte sich an Hilfsaktionen für die Opfer und Flüchtigen sowie an Protestaktionen gegen die von den russischen Geheimdiensten gesteuerten Gewalttaten.

  15. 21. März 1890

    Israelitengesetz.

    Mit dem „Gesetz betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“ wurde ein Gesetz geschaffen, welches das Verhältnis der verschiedenen, nach geographischen Gebieten eingeteilten Kultusgemeinden zum Staat auf eine einheitliche Rechtsgrundlage stellte.

  16. 15. Oktober 1893

    Eröffnung der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt.

    Nach 15-jähriger Vorbereitung wurde die Israelitisch-Theologische Lehranstalt Wien nach Vorbild des Jüdisch-Theologischen Seminars Breslau eröffnet. Eine wissenschaftliche Rabbiner- und Religionslehrerausbildung sollte etabliert werden. Ziel war die Qualitätssicherung des Religionsunterrichts.

  17. 1. November 1895

    Eröffnung des ersten Jüdischen Museums Wien.

    1895 wurde in Wien das erste Jüdische Museum gegründet. 

  18. 1900er

    Siegmund Husserl .

    Siegmund Husserl führte erstmalig eine wissenschaftliche Archivverwaltung mit parallel geführter Registratur ein und entwickelte weitere Pläne für die Entwicklung und Vernetzung des Archivs. Seine Idee eines Zentralarchivs der österreichischen jüdischen Kultusgemeinden wurde nicht verwirklicht.

  19. 1914 bis 1918

    Das Archiv im Ersten Weltkrieg.

    Unter Archivar Samuel Pinkas sollten eine Archivordnung und eine Kanzleiregistratur erstellt werden. Durch den Ersten Weltkrieg konnten diese Maßnahmen nicht umgesetzt werden. Beschreibungen des Historikers Alfred F. Přibram zufolge herrschten zu Ende des Krieges im Archiv chaotische Zustände.

  20. Reorganisation des Archivs.

    Unter der Leitung des Archivars Saul Chajes erfolgte eine Umstrukturierung des Archivs. Er beschloss eine chronologische Ordnung der Akten bis 1860, ein Einteilung nach Jahrgängen und Exhibitenzahlen für Akten bis 1926 und parallel dazu die Katalogisierung nach Schlagworten, Orts- und Personennamen.

  21. 12. März 1938

    „Anschluss“ .

    Der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistisch regierte Deutschland, eine von weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung begrüßte Annexion, führte zur Aufgabe der staatlichen Souveränität und ebnete den Weg zur Verfolgung und Ermordung auch der österreichischen Juden.

    Anfang Mai 1938

    Wiedereröffnung der IKG .

    Nach dem „Anschluss“ wurde die IKG zunächst geschlossen und Anfang Mai wiedereröffnet. Sie musste unter Kontrolle der NS-Verwaltung und der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ zwangsweise die Vertreibung der Gemeindemitglieder und ab 1941 die Deportation organisieren.

    Juli 1938

    NS-Kontrolle des Archivbetriebs.

    Die erzwungene Umstrukturierung der IKG verursachte eine Flut von Akten, die im Archiv nicht mehr methodisch abgelegt werden konnten. Die Gestapo beschlagnahmte zudem einen Teil der Archivalien und brachte ihn nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt zur rassenideologischen Auswertung.

    9. November 1938

    Novemberpogrome.

    In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden alle Wiener Synagogen und Bethäuser außer dem Stadttempel zerstört, da er sich in einem Wohnhaus befindet. Geschäfte wurden geplündert, über 6.000 Juden wurden verhaftet und viele ins Konzentrationslager Dachau verschleppt

  22. 1. September 1939 bis 8. Mai 1945

    Archiv im Zweiten Weltkrieg.

    Mit dem deutschen Angriff auf Polen begann der Zweite Weltkrieg. Da 1943 Bombenangriffe auf Berlin zunahmen, bargen die NS-Behörden die konfiszierten jüdischen Wiener Archivalien in Schlesien. Von dort verbrachte die Rote Armee 1945 sie als „Beuteakten“ nach Moskau.

    20. Oktober 1939

    Deportation nach Nisko am San.

    Ende 1939 befahl Adolf Eichmann erste Deportationen österreichischer Juden ins neu besetzte Polen. In Nisko sollte ein sogenanntes Judenreservat entstehen, ein Konzentrationslager. Aufgrund unzulänglicher Verkehrswege und kriegsbedingt beanspruchter Transportmittel wurde das Lager 1940 aufgegeben.

  23. Herbst 1941

    Kennzeichnungspflicht und Ausreiseverbot für Juden .

    Am 19. September 1941 trat die sogenannte Judensternverordnung in Kraft, die Kennzeichnungspflicht für Juden. Ab dem 23. Oktober 1941 war die Ausreise aus deutschen Reichsgebieten für Juden verboten. Beide Maßnahmen dienten der Vorbereitung der endgültigen Vernichtung.

  24. Februar 1942

    Beginn der Deportationen - „Endlösung der Judenfrage“.

    Im September 1941 wurde mit der Ermordung noch nicht aus dem Einflussgebiet der Nationalsozialisten geflohener Juden begonnen. Den Deportationen und Tötungen waren Jahre der Verfolgung vorausgegangen. Ab Februar 1942 wurden die letzten in Wien verbliebenen Juden in Konzentrationslager verschleppt.

  25. 1. Dezember 1943

    Deportation Leopold Moses.

    Leopold Moses, der letzte Archivar des IKG-Archivs vor der Wiederbegründung 2009, wurde am 14. Oktober 1943 verhaftet und am 1. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nach dem Ende seiner Tätigkeit war das Archiv der IKG Wien de facto nicht mehr existent.

  26. 8. Mai 1945

    Kapitulation NS-Deutschlands.

    Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Damit wurden Deutschland und die in der Zeit von 1938 bis 1945 besetzten Gebiete von nationalsozialistischer Herrschaft befreit und die rassistische Gesetzgebung aufgehoben.

    8. Mai 1945

    Wiederbegründung der IKG nach der NS-Zeit.

    1945 wurde die IKG wiederbegründet, die erste Wahl des Kultusvorstandes fand im April 1946 statt. Die IKG stand infolge vor der Herausforderung, nach Wien zurückkehrenden Juden, KZ-Überlebenden und Angehörigen der 65.000 im Holocaust Ermordeten zu helfen und Opferentschädigungen voranzutreiben.

  27. Leihweise Übergabe von Archivalien nach Jerusalem .

    Alex Bein, Direktor des Zionistischen Archivs, schlug 1949 vor, die nach 1945 in desolatem Zustand befindlichen Archivalien nach Jerusalem zu bringen. Die IKG stimmte 1951 zu. Die Central Archives (vormals General Archives) erhielten in vier Tranchen (zuletzt 1978) Archivmaterial als Leihgabe.

  28. 15. Mai 1955

    Staatsvertrag.

    Zehn Jahre nach Kriegsende und 17 Jahre nach dem „Anschluss“ erhielt Österreich seine Souveränität zurück. Damit wurde aber auch der Mythos des „ersten Opfers der Nationalsozialisten“ besiegelt, für viele Österreicher ein Anlass, die Teilverantwortung für die Judenverfolgung von sich zu weisen.

  29. 1970er

    Erstellung des „Hodik-Inventars“.

    Avshalom Hodik erstellte in den 1970er Jahren ein Findmittel der den Central Archives in Jerusalem (vormals General Archives) leihweise übergebenen Archivalien der Wiener Jüdischen Gemeinde sowie 1979 einen Abschlussbericht zum Archiv der IKG Wien. Dieses Findmittel umfasst 432 Seiten.

  30. Auffindung des Archivs im Keller des Stadttempels.

    1986 entdeckte der damalige Sicherheitsbeauftragte Ernst Meir Stern im Zuge von Renovierungsarbeiten im Keller unterhalb der Synagoge in der Seitenstettengasse „verschollenes“ Archivmaterial. Es wurde wegen der Umbauten außer Haus gebracht. Danach geriet es jedoch wieder in Vergessenheit.

  31. Wiederauffindung des Wiener Archivs in der Herklotzgasse.

    Auf Initiative des damaligen Präsidenten der IKG, Ariel Muzicant, und der Exekutivdirektorin des Präsidiums, Erika Jakubovits, wurde ab 1998 nach verbliebenen Archivalien gesucht. Im Jahr 2000 wurden umfassende Bestände (800 Kartons) in einem Haus der IKG in der Herklotzgasse in 1150 Wien gefunden.

  32. Gründung der Abteilung Archiv in der IKG Wien.

    Mehr als 70 Jahre nach der Auflösung durch die Nationalsozialisten wurde im Jänner 2009 das Archiv als eigene Abteilung der IKG Wien wieder begründet und damit dessen Bedeutung für die Kultusgemeinde unterstrichen.

  33. Archivsanierung.

    Die Räumlichkeiten des IKG-Archivs wurden einer grundlegenden Sanierung unterzogen. Entsprechend modernen Archivstandards wurden Brandschutz, Klimaanlage und Lüftung eingerichtet. Damit ist sichergestellt, dass das gesamte historische Aktenmaterial fachgerecht gelagert ist.

  34. 22. November 2016

    200-jähriges Jubiläum Archiv der IKG Wien.

    Zum 200-jährigen Jubiläum des Archivs fand erstmals ein Tag der offenen Tür statt. Die Zugänglichkeit zum Archiv für wissenschaftliche und private Forschung ist seither möglich. Eine Festschrift sowie eine Website wurden im Zuge der Feierlichkeiten vorgestellt.